Offline-Retreats – Warum wir freiwillig abschalten
Man gibt sein Handy ab, bekommt stattdessen eine Yogamatte, ein dünnes Bett und eine strenge Tagesstruktur. Man spricht nicht. Man schaut niemandem in die Augen. Man isst schweigend, steht vor Sonnenaufgang auf, atmet, meditiert, schweigt wieder.
Willkommen auf einem Offline-Retreat.
Einem Ort, an dem man nicht sein soll, sondern einfach ist.
Was früher fast schon esoterisch wirkte, ist heute ein wachsender Trend. Immer mehr Menschen buchen sich bewusst in Stille, Natur, Reduktion ein – für ein Wochenende, eine Woche oder länger. Keine Reels, keine Mails, kein Smalltalk. Nur Du. Und der Teil von Dir, den Du sonst ganz gut unter Kontrolle hältst. Aber was treibt so viele Menschen in diese freiwillige Entnetzung? Was passiert da – jenseits von Yoga und glutenfreiem Frühstück? Und warum wirkt das so heilsam?
Die Erschöpfung vom „Immer-an“
Wir leben in einer Welt der ständigen Verbindung. Unsere Handys sind wie Verlängerungen unseres Nervensystems. Immer erreichbar, immer informiert, immer abgelenkt. Doch genau dieses „Immer-an“-Sein hat einen Preis: Wir verlieren uns in der Flut. Offline-Retreats sind wie ein Not-Aus-Schalter. Eine kontrollierte Unterbrechung vom Dauerfeuer aus Push-Benachrichtigungen, Terminen und Erwartungen. Psychologisch betrachtet ist das mehr als Urlaub. Es ist eine Wiederherstellung der Selbstwahrnehmung. Plötzlich spürst Du wieder: Ah, das bin ich – ohne Lärm, ohne Likes, ohne Agenda.
Die Sehnsucht nach Tiefe
Retreats versprechen Reduktion. Aber eigentlich geht es um Tiefe. Wenn der äußere Input wegfällt, beginnt der innere Dialog. Und ja – der ist manchmal unbequem. Aber er ist auch ehrlich. Plötzlich merkst Du, welche Gedanken in Deinem Kopf kreisen, wenn Du sie nicht mehr mit Scrollen betäuben kannst. Die große Frage lautet: Was passiert mit Dir, wenn Du nichts tust, niemandem etwas beweisen musst, keine Rolle spielst? Viele Retreat-Teilnehmer berichten von einer erstaunlichen Erfahrung: Sie erkennen sich selbst wieder. Nicht durch große Erkenntnisse, sondern durch Stille, Rhythmus, Einfachheit.
Die Rückverbindung zur Natur – und zur eigenen Natur
Ob im Wald, in den Bergen oder am See: Offline-Retreats finden fast immer in der Natur statt. Und das ist kein Zufall. Denn der Blick auf Bäume statt Bildschirme macht etwas mit uns. Die Natur bewertet nicht, fordert nicht, vergleicht nicht. Sie ist einfach da. Und genau das wirkt regulierend auf unser Nervensystem. Zugleich erleben wir über das Draußensein auch etwas anderes: eine Rückverbindung zu unserer eigenen Natur. Wir schlafen besser. Atmen tiefer. Spüren mehr.
Die Abwesenheit von Performance
Kein Selfie, kein getracktes Workout, kein hübsch angerichtetes Frühstück. Auf einem Offline-Retreat musst Du nichts zeigen. Du darfst einfach sein – müde, unkonzentriert, verunsichert, glücklich, gelangweilt. Alles darf da sein. Und das allein ist eine seltene Erfahrung in einer Welt, in der jede Erfahrung „contentfähig“ gemacht wird. Offline zu sein ist eine Form von Intimität mit sich selbst. Keine Maske, kein Lächeln fürs Außen. Nur du und dein innerer Zustand – roh, unverpackt, unperfekt.
Was wir wirklich suchen
Am Ende geht es nicht um Detox oder spirituelle Erleuchtung. Es geht um etwas viel Menschlicheres: Wir wollen zurück zu einem Gefühl von Echtheit. Offline-Retreats geben uns die Möglichkeit, das Tempo selbst zu bestimmen. Sie holen uns raus aus der Fremdsteuerung. Sie geben Raum für das, was im Alltag keinen Platz findet: Langeweile, Tränen, Dankbarkeit, echtes Ankommen. Und vielleicht auch ein bisschen Erlösung vom Gefühl, immer etwas tun, sagen, posten, beweisen zu müssen.
Was nehmen wir mit?
Nicht jeder kehrt aus einem Retreat als neuer Mensch zurück. Aber fast alle kommen mit einem klareren Blick. Für sich selbst. Für die eigenen Bedürfnisse. Für das, was wirklich zählt. Vielleicht geht es gar nicht darum, für immer offline zu sein. Sondern darum, sich immer wieder daran zu erinnern, dass man auch ohne all das genug ist.
Interview mit einer Retreat-Leiterin, die selbst jahrelang im digitalen Hamsterrad steckte – bis sie den Stecker gezogen hat und heute Offline-Auszeiten für andere Menschen anbietet.
„Stille ist nicht leer – sie ist voller Antworten“
Ein Gespräch mit Lilli M., Gründerin von „ZurückZuDir“-Retreats
Lilli M. war Projektmanagerin in einer Berliner Digitalagentur. 60-Stunden-Woche, drei Geräte parallel, immer online – bis ihr Körper irgendwann nicht mehr mitmachte. Heute leitet sie Retreats, bei denen Menschen für ein paar Tage offline gehen – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe mit ihr gesprochen: über das Schweigen, die Angst vor der eigenen Stille und das, was passiert, wenn man dem eigenen Innenleben wirklich zuhört.
Wie kamst Du selbst zum ersten Mal mit dem Thema Offline-Retreat in Berührung?
Lilli:
Ehrlich gesagt durch einen totalen Zusammenbruch. Ich habe damals in einer Tech-Firma gearbeitet, alles war getaktet, effizient, leistungsorientiert. Mein Körper hat mir irgendwann gezeigt: Stopp. Panikattacken, Schlaflosigkeit, völlige Reizüberflutung. Ich hab mich selbst kaum noch gespürt.
Eine Freundin hat mir dann von einem Schweige-Retreat erzählt. Ich dachte erst: auf keinen Fall. Ich war ja gewohnt, ständig zu funktionieren, zu senden. Aber ich bin trotzdem hingefahren. Und es war der krasseste Perspektivwechsel meines Lebens.
Was war das Beeindruckendste an dieser Erfahrung?
Lilli:
Dass Stille nicht leer ist – sondern unglaublich dicht. Ich hab zum ersten Mal seit Jahren wieder richtig geschlafen. Ich habe geweint, ohne zu wissen warum. Ich habe Vögel gehört, mein eigenes Herz. Und ich habe erkannt, wie viel ich vorher kompensiert habe: durch Scrollen, Reden, Arbeiten, Planen.
Wie entstand daraus die Idee, eigene Retreats anzubieten?
Lilli:
Ich bin danach erstmal sechs Monate offline geblieben, bin gewandert, hab geschrieben, meditiert. Und irgendwann gemerkt: Ich will diesen Raum, den ich da erleben durfte, auch anderen ermöglichen. Aber auf meine Art – undogmatisch, liebevoll, ohne spirituellen Leistungsdruck.
Meine Retreats heißen „ZurückZuDir“, weil das genau das ist, was passiert: Du kehrst zurück. Nicht irgendwohin – sondern zu Dir.
Was erlebst Du bei den Menschen, die zu Dir kommen? Gibt es Gemeinsamkeiten?
Lilli:
Ja, sehr viele. Die meisten kommen, weil sie „einfach mal runterkommen wollen“ – aber eigentlich suchen sie Tiefe. Sie sind oft erschöpft, innerlich zerrissen, fremdbestimmt. Viele funktionieren hervorragend im Außen – aber haben keinen Kontakt mehr zum Innen.
Was sie hier erleben, ist erstmal Entzug: vom Reiz, vom Tempo, von der eigenen Maschinerie. Dann kommt Widerstand. Und dann – bei fast allen – Erleichterung.
Wie sehen Deine Retreats konkret aus?
Lilli:
Wir sind in einfachen Holzhäusern am Waldrand. Kein WLAN. Kein Empfang. Es gibt Schweigezeiten, bewusstes Essen, Gehmeditationen, Journaling, manchmal auch Eisbaden oder Feuerabende. Ich halte Impulse, begleite die Gruppe, aber niemand muss irgendwas. Das ist mir wichtig. Es geht nicht um Selbstoptimierung – sondern ums Sein.
Wie verändert sich das Verhältnis der Menschen zu ihren digitalen Geräten danach?
Lilli:
Viele sagen: Ich will bewusster damit umgehen. Sie entfolgen Kanälen, legen Social-Media-Pausen ein, strukturieren ihren Alltag neu. Nicht alle halten das ewig durch – aber sie haben einen neuen Referenzpunkt. Sie wissen, wie sich Stille anfühlt. Und das bleibt.
Was wünschst Du Dir für die Zukunft?
Lilli:
Dass Offline nicht mehr als Flucht gilt – sondern als Rückkehr.
Dass Menschen nicht erst dann abschalten, wenn sie zusammenbrechen.
Und dass wir begreifen: Es ist radikal heilsam, nichts zu müssen. Keine Performance, keine Produktivität, kein Content. Nur du – atmend, fühlend, lebendig.
Letzte Frage: Was würdest Du jemandem sagen, der noch nie so ein Retreat gemacht hat – und ein bisschen Angst davor hat?
Lilli:
Ich würde sagen: Die Angst ist normal. Aber was dahinter wartet, ist mehr als Erholung. Es ist Erinnerung – an das, was Dich ausmacht. Und das kann Dir kein Handy der Welt geben.